Die Stiftung Respekt!, 2010 aus dem Berliner Archiv der Jugendkulturen heraus gegründet, wollte die Lage von Jugendlichen in ländlichen Regionen genauer untersuchen. Gemeinsam mit mehr als 30 Partner:innen realisierte Respekt! ab 2018 in ihrem Projekt „WIR. Heimat – Land – Jugendkultur“ einen bunten Strauß aus Befragungen, Workshops, Fachtagungen, literarischen und journalistischen Erkundungen. Die Besonderheit der Studie liegt darin, dass die Jugendlichen selbst aktiv eingebunden wurden: Sie wurden nicht nur befragt, sondern konnten in verschiedenen Settings eigene Ideen, Wünsche und Positionen entwickeln und dabei erkennen, dass die Erwachsenenwelt sich für ihre Perspektive interessiert. Denn nachhaltige Veränderungen lassen sich heute nur noch erzielen, wenn die Menschen bei der Entwicklung und Implementierung neuer Maßnahmen selbst aktiv mitwirken. Identifikation – mit der Schule, dem Jugendhaus, der Gemeinde – entsteht letztlich durch Teilhabe und die Erfahrung von Respekt.
Die große Mehrheit der Jugendlichen und jungen Erwachsenen lebt gerne auf dem Land. Doch vor allem die Jüngeren klagen über fehlende Räume, in denen sie sich frei und unkontrolliert aufhalten dürfen, mit ihren Freundinnen und Freunden treffen können. Besonders in den kalten Jahreszeiten wissen sie oft nicht wohin. Und nicht wenige Jugendliche fühlen sich „unerwünscht“ in ihrer Gemeinde, haben das Gefühl, ständig irgendwo vertrieben und misstrauisch beobachtet zu werden, als gehörten sie allesamt gewalttätigen Gangs an – dabei ist die große Mehrheit der Jungen so brav, integrationswillig und leistungsorientiert wie schon lange keine Generation zuvor. Das größte Problem für alle – regional unterschiedlich ausgeprägt – ist die fehlende Mobilität: ausgedünnte Busfahrpläne, vor allem ab 18 Uhr und am Wochenende, wenn Jugendliche sie gerade bräuchten, um Freizeitangebote wahrzunehmen, schlechte oder gar keine Radwege, kaum Sharing- und Mitfahrangebote. Hier ist noch viel Luft nach oben für die Phantasie und Kreativität der (kommunal)politisch Verantwortlichen.
Das größte Problem für alle – regional unterschiedlich ausgeprägt – ist die fehlende Mobilität.
Obwohl fast jede:r Zweite, vor allem junge Frauen und Höherqualifizierte, sich durchaus vorstellen kann, in die Großstadt abzuwandern, bleiben viele dann doch in ihrer ländlich geprägten Heimat, weil sie es sich schlicht nicht anders leisten können, weil sie nicht zu der von Hause aus gut bestückten Bildungs- und Kulturelite ihrer Region gehören oder weil sie gar nicht weg wollen. Es ist ja auch nicht so, dass alle darunter leiden, dass im Dorf jede:r jede:n kennt, jeder Schritt aufmerksam begleitet wird und dass Rollenveränderungen eigentlich nicht vorgesehen sind. Für viele übersetzt sich die engmaschige soziale Kontrolle in Landgemeinden mit sozialer Wärme, füreinander da sein, familiale Intimität statt gesichtsloser Anonymität. Und, durchaus nicht unwichtig: Natur. Anders als etwa noch in den Jugendszenen der 1980er Jahre wird ein Leben in der Natur von den Jungen wieder als positives Qualitätsmerkmal geschätzt. Dafür nimmt man eben manches in Kauf. „Ruhe“, die immer wieder genannte Assoziation zum Dorfleben, ist Chance und Dilemma zugleich
Auf dem Dorf ist die Welt noch in Ordnung, denken viele. Aber ist sie das wirklich? Gelingt es Dörfern und Landgemeinden wirklich noch, die Welt draußen zu halten? Wollen sie das überhaupt, vor allem die Jungen, auch die, die gerne in ihrem Dorf und in ihrer Landgemeinde leben?
Aktuelle Beobachtungen zeigen eher, dass Veränderungen, die „die Jugend“ in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat, zwar in den Städten sichtbarer zutage treten, aber auch auf dem Land stattfanden und weiter stattfinden. Freiwillige Feuerwehren, kirchliche und andere Jugendgruppen und -verbände, sogar Karnevals- und Schützenvereine klagen vielerorts über Nachwuchsmangel. Traditionen erodieren. Auch Jugendliche, die gerne in Landgemeinden leben, schließen sich nicht mehr automatisch den Jugendgruppen und Vereinen ihrer Eltern und Großeltern an, sondern sie prüfen kritisch: Was bringt MIR das, wenn ich mich dort engagiere? Werde ich dort, wo ich mich einbringe, akzeptiert, so wie ich bin? Kann ich von Anfang an nicht nur mitarbeiten, sondern auch mitbestimmen? Ist das Ziel unverrückbar festgeschrieben oder habe ich noch Einfluss darauf? Ist der Weg zum Ziel spannend, aufregend, eine Herausforderung für mich? Wird dort nur geredet, geredet, geredet oder auch gehandelt? Sind die Menschen, mit denen ich mich engagiere, nett, cool, interessant? Finde ich bei meinem Engagement vielleicht sogar nicht nur neue Freundinnen oder Freunde, sondern auch eine feste Beziehung?
Freiwillige Feuerwehren, kirchliche und andere Jugendgruppen und -verbände, sogar Karnevals- und Schützenvereine klagen vielerorts über Nachwuchsmangel. Traditionen erodieren.
Spaß und Sinn, nicht Pflichtbewusstsein, motivieren Jugendliche zum Engagement. Sie müssen eine Einheit bilden, will man Jugendliche aktivieren. Das bedeutet: wirkliche Partizipation, Eigenverantwortlichkeit, die Möglichkeit eines Engagements auf Zeit, Ganzheitlichkeit (Kopf und Körper werden beansprucht), möglichst flache Hierarchien, kreative Herausforderungen, Respekt. Mit anderen Worten: Im Vergleich zwischen traditionellen Vereinen, Jugendverbänden und anderen Großorganisationen wie Kirchen oder Parteien – mit ihren oft patriarchalen, jugendfeindlichen Strukturen, nicht zu hinterfragenden Autoritäten und sinnentleerten Alte-Männer-Ritualen – und den informellen jugendkulturellen Szenen, ergibt das einen eindeutigen Punktsieg für Letztere. In den Jugendkulturen fanden sich schon immer überwiegend jene zusammen, die mit den engmaschig normierten Strukturen und nicht hinterfragbaren Regeln der formellen Engagementangebote nicht klarkamen.
Spaß und Sinn, nicht Pflichtbewusstsein, motivieren Jugendliche zum Engagement. Sie müssen eine Einheit bilden, will man Jugendliche aktivieren.
Selbstverständlich prägen die (großstädtischen) Jugendkulturen auch Jugendliche auf dem Land. Wie sollte es anders sein, ist doch das world wide web längst die wichtigste Quelle und das größte Transportmittel zur Verbreitung von Jugendkulturen. Was für (eher) großstädtische Jugendkulturen schon immer galt, überträgt sich nun auch auf die Vereine und Organisationen in den Landgemeinden. Die Jugendlichen dort fordern dies explizit eher selten – sie stimmen mit den Füßen ab und bleiben den Angeboten, die nicht zu ihnen passen, einfach fern. Landgemeinden und dort beheimatete Organisationen werden sich gegenüber den Bedürfnissen der jugendkulturell geprägten Jugendlichen öffnen müssen, wollen sie nicht zur jugendfreien Zone werden. Das bedeutet neue Herausforderungen, auch für die Jugendarbeit auf dem Lande – nicht zuletzt, damit aus dem „Ich bin dann mal weg“ vieler Jugendlicher vielleicht ein „Ich bleib erst mal hier“ oder „Ich komme gerne zurück“ wird. – Dies ist eine Erkenntnis aus der Befragung im Kontext des WIR-Projektes.
Das Dorf des 21. Jahrhunderts ist keine von der Welt isolierte Parzelle mehr, und seine Bewohner:innen bewegen sich selbstverständlich – virtuell wie real – in der großen, weiten Welt. Vor allem die Jungen. Und immer, wenn sie wiederkommen, bringen sie neue Ideen und Einflüsse mit.
Viele von ihnen verlassen ihr Dorf für einige Jahre, um mehr von der Welt kennenzulernen, sich auszuprobieren und weiterzuentwickeln, großstädtische Kultur zu erleben, und oft auch, weil sie es müssen, um zu studieren oder weil es in der Region keine attraktiven Jobs gibt. Doch die meisten kehren wieder zumindest in die Region zurück. Die meisten der Jungen schätzen ihre Heimat, auch das hat unsere Studie ergeben, und noch mehr würden wohl gerne zurückkehren, wenn es umgekehrt genauso wäre. Wenn das Dorf – oder zumindest ihre Herkunftsregion – sie mehr wertschätzen würde. Viele wären bereit, sich für ihr Dorf und ihre Region zu engagieren, wenn es denn Angebote gäbe, die ihnen attraktiv erscheinen. Daran mangelt es noch häufig. Die Alten wissen, dass sie die Jungen brauchen, damit ihre Infrastrukturen langfristig überleben und ihr Dorf nicht stirbt. Sie sind aber zugleich oft nicht bereit, den Jungen angemessen Platz zu schaffen, selbst ein Stück weit zurückzutreten, um den Jungen eigene Engagementformen zu ermöglichen, nach ihren eigenen Regeln.
Damit das Dorf bleibt, muss es sich wandeln
Literatur:
Quelle & weitere Infos: blog.vielfaltleben.de | 2. Dezember 2020 | Klaus Farin